Landesverband Berlin im
Deutschen Freidenker-Verband e.V.

„Wir im Frieden? Wir für den Frieden!“ – Rede von Dr. Friedrich Wolff

Auf einer Friedensveranstaltung in Bernau am 10.11.16 unter dem Motto:„Wir im Frieden? Wir für den Frieden!“ hielt der nunmehr 94-jährige Jurist und Friedensaktivist Dr. Friedrich Wolff die folgende Rede:

„Liebe Freunde, liebe Genossen,

gestatten Sie mir zunächst eine Vorbemerkung: Was ich sagen werde, ist meine Meinung und nur meine Meinung. Ich spreche hier für keine Partei und keine Organisation. Nun zur Sache:

Wir wollen Frieden, wir haben Angst vor dem III. Weltkrieg, wir wollen nicht in Atombunker, wir wollen leben. Unsere Angst ist nur zu begründet. Wir wissen, was der II. Weltkrieg angerichtet hat. In Oranienburg werden noch jetzt Fliegerbomben gefunden und entschärft. Ein Brief meiner Mutter, einer einfachen Frau, aus Berlin-Neukölln an ihre Mutter nach Dresden, geschrieben am 29. Juni 1945, schildert die Atmosphäre dieser Zeit besser als ich es tun kann. Es gab noch keine Post. Auf einem Zettel an einem Baum hatte sich ein Mann zur Beförderung von Post nach Dresden angeboten. Das klappte. In dem Brief hieß es u.a.:

„ Meine liebe, liebe Mutter!
Wir leben! Es fällt mir sehr schwer diesen Brief zu schreiben, aus seelischen u. körperlichen Gründen. … beim schreiben dieser Zeilen kommt mir das namenlose Elend wieder zum Bewußtsein was wir durchgemacht haben, 6 Wochen, ehe der Russe hier war, Nacht für Nacht bombardiert – Berlin hatte 700 Angriffe. Dann kam der Kanonendonner der Front langsam aber sicher näher. Wir haben gezittert wenn er aufhörte, wir glaubten der Russe würde wieder zurück gedrängt. Wir hatten wohl Angst vor dem Straßenkampf u. dessen Folgen, vor Brand am meisten, aber wir hofften u. wünschten die Befreiung. Dann war sie da Am 25. April 2 ¼ Uhr kamen 2 Russen durch unseren Garten wir raus aus der Wohnung ihnen entgegen. Ich habe geweint und ihnen die Hand gedrückt, andere haben sich versteckt. Ich hatte keine Angst. Die zwei sahen sehr gut aus u. sagten: “Ruski tut keinen Zivilpersonen etwas”. 10 Minuten vorher waren noch 4 S.S. Soldaten bei uns im Haus, die setzten sich ohne zu schießen G.s.D. ab. In der Luft war eine tolle Schießerei, die Granaten flogen über den Häusern, die Stalinorgel orgelte ihre Granaten aus allen Rohren, es war ein Höllenlärm. 15 Mieter aus unserem Haus wir natürlich mit, hatten uns vollkommen Tag u. Nacht im gut abgestützten Keller eingerichtet.“ Soweit der Brief.

Ich habe auch erlebt, wie der II. Weltkrieg von Hitler vorbereitet wurde. In der Schule, im Erdkundeunterricht, sahen wir auf Schautafeln, wie Deutschland von feindlichen Kampfflugzeugen von allen Seiten bedroht wurde, Polen provozierte angeblich an unserer Grenze, Luftschutzkeller wurden eingerichtet usw. Hitler log, er betonte seinen Friedenswillen, bis es am 1. September 1939 hieß: Es wird zurückgeschossen. Immer war es der andere der anfing.

Heute klingt es in meinen Ohren ähnlich: Die Russen annektieren die Krim, die Russen führen Krieg in der Ost-Ukraine, die Russen bombardieren Krankenhäuser in Syrien, die Russen schießen ein Passagierflugzeug ab, die Russen haben Schuld, dass das Morden in Syrien nicht endet. Klingt das nicht wie Kriegsvorbereitung? Die NATO ist bis an die Grenzen Russlands vorgerückt, sie hat den Sozialismus besiegt, will sie jetzt Russland besiegen? Wer ist der Aggressor? Was würden die USA sagen, wenn die Russen an ihren Grenzen, etwa in Mexiko, ihre Truppen stationieren und Manöver veranstalteten?

Viele dachten, als das sozialistische Lager in Europa verschwunden und der Kalte Krieg beendet war, das friedlichere Zeiten anbrechen würden. Das war ein Irrtum. Kriege brachen im Nahen Osten, in Asien, in Afrika und selbst in Europa aus. Ein neuer Kalter Krieg entstand. Ich sehe mich daher bestätigt in meiner Auffassung: Kapitalismus, Imperialismus bedeuten Krieg.

Diese unsere Auffassung ist alt. Wir sind alt, die Welt hat sich verändert seit Marx und Engels aber auch seit Lenin lebte. Der Kapitalismus ist sich im Kern gleich geblieben, aber drei industrielle Revolutionen, die Globalisierung veränderten die Welt, veränderten die Akteure im Klassenkampf, veränderten Kapitalisten wie Arbeiter.

Sozialisten, Kommunisten haben eine furchtbare, eine historische Niederlage erlitten. Wir haben uns davon noch nicht erholt. Wir kennen noch nicht wirklich die Ursachen unserer Niederlage. Wir müssen uns bemühen, sie zu erkennen. Ich bin nicht berufen, dazu einen Beitrag zu leisten, aber ich glaube, ich habe das Recht über diese Niederlage, die auch meine Niederlage ist nachzudenken. Wenn wir die Ursachen erkannt haben, wird es auch wieder vorwärts gehen.

Wir sind davon ausgegangen, dass die Arbeiterklasse die Trägerin des gesellschaftlichen Fortschritts ist. Meine Partei war eine Partei der Arbeiterklasse. Sehen wir uns heute an, wer nach dem Zusammenbruch an unserer Seite geblieben ist. Wie viel Prozent der Mitgliedschaft der Linken, wie viele der DKP-Mitglieder sind Arbeiter? Ich weiß es nicht, meine Partei hat mich nicht informiert, sie fand das wohl unwichtig. Ich fürchte, der Prozentsatz ist nicht hoch. Wir haben Bahro, Harich, Janka, um nur einige zu nennen, als Feinde es Sozialismus zu hohen Strafen verurteilt, nach der Konterrevolution, als viele uns verließen, standen sie jedoch an unserer Seite.

Wir waren gegen Dogmatismus, aber waren wir nicht doch Dogmatiker?

Wir waren für innerparteiliche Demokratie, doch in Wirklichkeit vertrauten wir darauf, dass die Partei, d.h. der Generalsekretär, das Politbüro immer Recht haben.

Wir müssen uns intensiver damit beschäftigen, was wir richtig und was wir falsch gemacht haben. Die marxistische Wissenschaft darf nicht auf dem Stand des beginnenden 20. Jahrhunderts stehen bleiben.

Ein anderes Thema: Schon im II. Weltkrieg sprach man von ideologischer Kriegführung. Das war erst der Anfang. Heute, nach der 3. Industriellen Revolution, nach Fernsehen, Internet, Iphone usw. sind das die Kampfmittel, werden Staaten mit ihrer Hilfe destabilisiert, werden Regierungen gestürzt. Wir haben das in der Ukraine erlebt, in Georgien. Es klappt nicht immer, aber wir erleben Versuche dieser Art wohl auch in Russland, China, Venezuela Brasilien, Chile und anderswo. Bürgerkriege wie in Syrien werden auch mit diesen Mitteln entfacht und, wo das nicht hilft, wird einmarschiert wie im Irak.

Der Imperialismus ist geblieben, was er war, nur seine Methoden haben sich geändert, so wie sich die Wissenschaft und die Technik fortentwickelt haben.

Ich bin ein alter Mann und meine Freunde sind auch alt, wir müssen das Neue erlernen. Die DDR ist untergegangen und ihre europäischen sozialistischen Verbündeten ebenso. Wir müssen fragen warum, wenn wir neue Kriege verhindern, den Imperialismus besiegen wollen. Ich denke, die DDR, also wir, waren nicht, wie man heute sagt, up to date. Wir waren gewappnet, den imperialistischen Feind militärisch zurückzuschlagen, unsere NVA, sagt man, war schlagkräftiger als die Bundeswehr, unser Geheimdienst informierte uns zuverlässig über die Absichten unseres Gegners. wir glaubten, der Sozialismus habe endgültig gesiegt. Und dann das Resultat: die Bundeswehr, sprich NATO, kassierte ohne einen Schuss die Waffen der NVA und verkaufte sie an Feinde des Fortschritts.

Warum kam das so? Es gab viele Ursachen. Aber eine war: Wir wurden im psychologischen Krieg besiegt. Der Gegner hatte mit Radio und Fernsehen aber auch mit Schlagern, Mode und Technik die Hirne und Herzen sehr vieler DDR-Bürger erobert. Wir, die Fortschrittlichen, vertrauten nicht unseren Argumenten, sondern unseren bewaffneten Organen. Das Volk wendete sich von uns ab, es glaubte RiaS und der Tagesschau. Unsere Waffen kamen nicht zum Einsatz. Sollten wir gegen unser Volk kämpfen?

Wir sehen die Kriegsgefahr. Wir streiten für den Frieden. Doch wir sind von gestern. Marx, Engels und Lenin sind unsere Lehrmeister, doch sie kannten keinen Mercedes, kein Fernsehen, kein Internet, kein Facebook, keine entwickelte Wissenschaft der Psychologie, keine Soziologie. Unsere Gegner nutzen die neuen Erkenntnisse. Heute können Politiker mit Umfragen jederzeit feststellen, was das Wahlvolk denkt, sie können danach mit Hilfe der Psychologie über die Medien Einfluss auf die politische Meinung der Massen nehmen. Es ist wie ein Karussell: Die Medien beeinflussen die öffentliche Meinung etwa so: di Russen sind schuld. Die Umfragen bestätigen das mit einer gestiegenen Tendenz, dann wieder die Medien und so geht das weiter. Das ist Demokratie heute. Die DDR hat Umfragen verschmäht, die Klassiker kannten sie nicht, die Soziologie, die die Grundlagen dafür schuf, war noch nicht entwickelt. Die DDR brauchte sie nicht, da die Klassiker sie nicht gebraucht hatten, also schloss sie das einzige Leipziger Institut, das Soziologie betrieb. MfS berichtete, aber zu mir sagte Honecker darüber, da kann ich ja gleich Westfernsehen sehen. Die Politiker blieben also uninformiert. Ich denke, wir waren Dogmatiker.

Die Macht der Medien, zur politischen Verführung ist groß aber nicht unbegrenzt. Als beispielsweise Brandenburg und Berlin vereint werden sollten, konnten die Medien sagen und schreiben, was sie wollten, das Wahlvolk sagte nein. Die Ossis trauten den Wessis nicht und umgekehrt. Heute sagen die Umfragen trotz aller russlandfeindlichen Propaganda, die Deutschen wollen Frieden. Sie wollen nicht Deutschland am Hindukusch verteidigen. Viele glauben auch nicht, dass Putin an allem schuld ist, da können die Medien sagen und schreiben, was sie wollen – aber noch mehr glauben es.

Das Wahlvolk glaubt auch nicht in seiner Gesamtheit, dem „Deutschland geht’s gut“ der Kanzlerin und auch nicht ihrem „Wir schaffen das“. Das politische Unbehagen erfasst weite Teile der Bevölkerung. Pegida und AfD profitieren davon, sie rufen „Lügenpresse“, Das gab es bisher nicht. Die Medien galten als unabhängig. Erinnerungen an die letzten Tage der Weimarer Republik werden wach. Doch sie trügen: es ist schlimmer, es gibt keine antifaschistische Bewegung, die so stark ist, wie es damals SPD und KPD waren

Es gibt aber eine wachsende Erkenntnis, dass es so, wie es ist, nicht weitergehen kann. Die Menschen beginnen sich zu wehren, manchmal verkennen sie die Ursachen ihrer Unzufriedenheit. Das erinnert mich wieder an die Nazizeit, an das „Die Juden sind an allem schuld“. Heute sind die Flüchtlinge die Schuldigen. Aber warum sind sie geflüchtet? Wer hat das zu verantworten? Die ungehemmte Marktwirtschaft, der ungefesselte Kapitalismus, hat den Afrikanern die Lebensgrundlage genommen. Die Kriege im Irak, in Libyen, in Afghanistan und in Syrien haben Millionen vertrieben. Wer hat das zu verantworten? Waren das nicht die USA? Und wer bedroht die USA? Glauben wir: Die Russen wollen Krieg? Die UdSSR beklagte 1945 27 Millionen Tote, Deutschland 7.661.186, die USA 407.326. Der zweite Weltkrieg war furchtbarer als der erste, der dritte wird vielleicht die Welt unbewohnbar machen. Wer will das?

Warum gehen 30.000 zur Revolutionären Maidemonstration, warum protestierten 250.000 in Berlin gegen TTIP? Ich denke, wir leben in einer vorrevolutionären Situation. Die Machthaber wissen das anscheinend besser als wir und möchten deshalb die Bundeswehr im Innern einsetzen. Auch Wissenschaftler warnen, so sagt z.B. Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung: „Auch für unsere derzeit anscheinend (er sagte „anscheinend“)so stabile und blühende Volkswirtschaft stellt eine wachsende Ungleichheit ein großes Dilemma dar: Sie teilt das Land immer stärker in zwei auseinander driftende Gruppen, unter denen der Verteilungskampf immer stärker toben wird. Langfristig treibt sie das Land – wenn sich die derzeitigen Trends fortsetzen sollten – auf die Zerreißprobe zu“ (Marcel Fratzscher, Verteilungskampf, S,72). Im nd wurde zum selben Thema die Meinung von den Ökonomieprofessoren Guy Kirsch und Volker Grossmann, von der Schweizer Universität Fribourg so wiedergegeben: „Mit der Ungleichheit, wie sie heute herrscht, kann es auf die Dauer nicht gut gehen“ (ND v. 14/25.9.2016). Die Autoren weisen darauf hin, dass sich Reichtum wie Armut vererben. Sie sprechen von „feudal-tribalen Gebräuchen“ (nd a.a.O.). Das ist neu und fordert eine Reaktion heraus. Es bedeutet u.a., dass intellektuelles Potenzial eines Volkes ungenutzt bleibt, Kapitalist bleibt Kapitalist, Arbeiter bleibt Arbeiter. Wie einst Adel und Bauer.

Die Arbeiter- und Bauernfakultäten der DDR haben gezeigt, welche Kräfte erschlossen werden können und welche ungenutzt verschwendet wurden und werden.

Der Frieden kann nicht allein mit marxistischer Theorie verteidigt werden. Die Theorie wird bekanntlich nur dann zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift. Anders gesagt, die beste Theorie nutzt nichts, wenn sie den Massen nicht unterbreitet wird, wenn sie von ihnen nicht verstanden, nicht aufgegriffen wird. Die junge Welt zeigt heute, wie das geht. Sie allein genügt aber nicht. Wir müssen die BILD-Leser erreichen. Schwer, aber anders wird es nicht gehen. Bis dahin bleibt nur die Mundpropaganda von uns allen.

Was also können wir für den Frieden tun? Wenn die Friedensfreunde nicht zu uns kommen, müssen wir zu ihnen gehen, d.h. konkret zu Campact, zu Attac, zu Blockupy, eben zu den Massenbewegungen der heutigen Zeit. Sie können für uns ein Kraftquell sein und wir für sie.

Die Feststellung, unsere Zeit ähnelt dem Ende der Weimarer Republik ist beängstigend, zumal es keine KPD mehr gibt. Sie fordert zur Aktion auf. Ich hoffe, wir sind bereit.“

Dieser Beitrag wurde am Sonntag, 13. November 2016 um 10:29 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Allgemein, Aufklärung, DFV Berlin, Friedensaktionen, Friedensbewegung, NATO, Politik, Standpunkte abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

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Ein Kommentar

  1. […] Ein besonderes Erlebnis war der Vortrag von Dr. Friedrich Wolff mit fundierten Aussagen über vergangene und jetzige Kämpfe. Dankenswerterweise stellte uns die Familie Wolff inzwischen den lesenswerten Vortrag zur Verfügung (hier ist der Wortlaut). […]

    Pingback: Deutscher Freidenker-Verband e.V. – Landesverband Berlin » „Wir im Frieden? Wir für den Frieden!“ – ein Bericht und ein Aufruf – 13. November 2016 @ 10:30

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