Landesverband Berlin im
Deutschen Freidenker-Verband e.V.

Balabanoff, Angelica

Balabanoff, Angelica

(eigentlich Anzelika Isaakovna Balabanova), geb. 07.06.1875 Cernigov (1), gest. 25.11.1965 Rom.
Die Journalistin und Politikerin Angelica Balabanoff wurde am 7. Juni 1875 in einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie geboren. Sie wuchs auf in der ehemaligen russischen, damals rund 15 000 Einwohner zählenden Gouvernementshauptstadt Cernigov (heute Teil der Ukraine), in der es erst wenig Industrie und Handel gab.

Eine organisierte Arbeiterbewegung gab es erst nach 1900. A.B. war die Jüngste von zahlreichen Kindern (die meisten sind allerdings schon früh verstorben). Früh verlor sie auch ihren Vater, sodass ihre Erziehung vor allem der Mutter oblag. Nach mehrjährigem Besuch der Gymnasien in Cernigov und Charkov hatte sie dann noch Privatunterricht, erlernte mehrere Sprachen. Schließlich beherrschte sie Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Russisch und Ukrainisch in Wort und Schrift. Bald wurde sie selbst Lehrerin, unterrichtete junge Mädchen, die sich auf ein Studium im Ausland vorbereiteten.

Immer mehr kam A.B. mit den im zaristischen Russland herrschenden Zuständen in Konflikte, fragte sich, „warum sind einige Menschen geboren, um zu befehlen und andere [um] zu gehorchen“ (2). Nachdem sie sich auch noch mit ihrer Mutter, die sie „standesgemäß“ verheiraten wollte, überworfen hatte, verließ sie 1897 – unter Verzicht auf ihren Erbanteil – die Heimat, ging ins Ausland, zunächst nach Brüssel. An der Neuen Universität in Brüssel studierte sie Sprachwissenschaft und Philosophie, wurde zum Dr. phil. promoviert. In Belgien lernte sie erstmals auch sozialistische Ideen kennen, hatte engen Kontakt zu dem Parteiführer Emilé Vandervelde (1866 – 1938).

Um ihr Wissen weiter zu vervollständigen, übersiedelte sie nach Deutschland, besuchte als Gasthörerin Vorlesungen und Seminare der Philosophie und Politischen Ökonomie an der Leipziger und Berliner Universität (Wintersemester 1900/01). In Deutschland organisierte sich A.B. erstmals politisch, wurde Mitglied des Bundes russischer Sozialdemokraten, lernte August Bebel (1840 – 1913), Rosa Luxemburg (1871 – 1919), Clara Zetkin (1857 – 1933) und Karl Liebknecht (1871 – 1919) persönlich kennen, blieb mit ihnen immer in Kontakt und arbeitete auf unterschiedlichsten Ebenen in all den nächsten Jahren eng zusammen.

Etwa 1901 ging A.B. erstmals nach Italien, in das Land, wo sich ihre Eltern früher aufgehalten hatten.Sie selbst bezeichnete Italien später einmal als ihre „zweite Heimat“ (3), entdeckte eine Wesensverwandtschaft zwischen Russen und Italienern, lobte deren „Großzügigkeit, ihre Leidenschaft, Impulsivität, romantische Hingabe“ (4). Dies führte wohl sogar oft zu Missverständnissen über ihr Geburtsland (auch ich bin dem aufgesessen, machte sie in einem Artikel über Max Sievers zur Italienerin (5). In Rom besuchte A.B. einen Kurs bei dem marxistischen Historiker Antonio Labriola (1843 – 1904), der ein entschiedener Gegner des Revisionismus in der internationalen Arbeiterbewegung war. Hier erfuhr sie auch vom Los der italienischen Arbeiterinnen und Arbeiter, die unter menschenunwürdigen Bedingungen in der Schweizer Textilindustrie schufteten.

Als Mitglied der Italienischen Sozialistischen Partei, der sie kurz zuvor beigetreten war, übersiedelte sie in die Schweiz, wurde als Gewerkschaftssekretärin in St. Gallen von 1902 bis 1904 Beraterin und Beschützerin dieser Proletarier. Vor allem nahm sie sich des Schicksals der Frauen an. Sie organisierte eine Kampagne, in der sie die Missstände in den kirchlichen Mädchenheimen offen legte.

Das veranlasste die Regierung zu einer formellen Untersuchung. Um aber mehr auch in die Breite zu gelangen, begründete sie eine spezielle Frauenzeitschrift, sprach auf vielen Versammlungen in verschiedenen Schweizer Städten. Auf einer dieser Versammlungen in Lausanne (Kanton Waadt) etwa 1903 lernte sie Benito Mussolini (1883 – 1945) kennen, einen aus der Romagna geflohenen Lehrer, der zu Hause dem Wehrdienst entkommen wollte. Diese Begegnung wurde nicht nur für ihre weitere politische Arbeit und das persönliche Leben in dem folgenden Jahrzehnt entscheidend, sondern trug ihr auch Aufenthaltsverbot für den ganzen Kanton ein.

Um aber Italien näher zu sein, übersiedelte sie etwa 1905 nach Lugano in die italienische Schweiz, redigierte das vor allem für Italien bestimmte Parteiblatt „Su Compagne“ (Erhebe dich Genosse). Nach Ausbruch der russischen Revolution 1905 – 1907 verstärkte sie ihre Agitationseinsätze, versuchte, die Schweizer Arbeiter zu Solidaritätsaktionen für ihre russischen Klassenbrüder zu mobilisieren. (6)

1910 kehrte Angelica Balabanoff nach Italien zurück, arbeitete als Propagandistin, Journalistin, Gewerkschaftsorganisatorin, Dozentin und Herausgeberin einer Frauenzeitung und gehörte zum linken Flügel der ISP, der mit 200 000 Mitgliedern drittgrößten Partei der II. Internationale. 1910 nahm sie in Kopenhagen auch erstmals an einem Internationalen Sozialistenkongress teil. Ihre Rolle in der Partei wurde gestärkt, als sie gemeinsam mit anderen die „abwartende“ Haltung der Parteiführung während des italienischen Feldzuges in Libyen im Herbst 1911 scharf kritisierte. Und nachdem die Parteilinken 1912 die Mehrheit in der ISP errangen, wurde A.B. in den Parteivorstand gewählt, dem sie bis 1916 angehörte. Gleichzeitig wurde sie bis 1914 engste Mitarbeiterin Mussolinis in der Redaktion des Zentralorgans „Avanti“, gehörte der italienischen Delegation auf dem Internationalen Sozialistenkongress in Basel an, der nochmals zur internationalen Lage Stellung nahm und die sozialistischen Parteien verpflichtete, alles zur Erhaltung des Friedens zu tun. Sollte ein Krieg dennoch ausbrechen, sollte die Arbeiterklasse alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihn zu beenden, indem sie die kapitalistische Gesellschaft beseitigt.

Als eine der zwei italienischen Vertreter wurde A.B. in das Internationale Sozialistische Büro, dem leitenden und koordinierenden Gremium der II. Internationale, gewählt. Demselben gehörten zu der Zeit über 70 Delegierte aus 26 Ländern an. Es wurde von E. Vandervelde als Vorsitzendem und Camille Huysmans (1871 – 1968) geleitet. Vertreten waren in ihm solch bekannte Persönlichkeiten wie der Österreicher Victor Adler (1852 – 1918), August Bebel, die Schweizer Herman Greulich (1842 – 1925) und Robert Grimm (1881 – 1958), die Franzosen Jules Guesde (1845 – 1922) und Jean Jaurès (1859 – 1914), der Finne Otto Kuusinen (1881 – 1964), W. I. Lenin (1870 – 1924) und Rosa Luxemburg. A.B. sicherte durch ihre intensive Übersetzungs- und Protokollarbeit maßgeblich die Funktionsweise des Büros ab, was ihr viel Beifall von Bebel und Jaurés einbrachte.

Als im Sommer 1914 nach dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand (1863 – 1914) und der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien ein akuter Ausbruch des Weltkriegs drohte, kam am 29./30. Juli das ISB entsprechend den Beschlüssen aller Internationalen Sozialistenkongresse zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen, um über Kampfmaßnahmen der internationalen Arbeiterklasse zu beraten. Die Mehrheit der angereisten Delegierten vertraute jedoch den Friedensbeteuerungen ihrer Regierungen, berief einen außerordentlichen Sozialistenkongress für den 23. August nach Wien ein, der konkrete Beschlüsse beraten sollte. Ein Vorschlag A. Balabanoffs, gleich in Brüssel über international abgestimmte konkrete Aktionen zu beraten (seit 1907 war auf allen Sozialistenkongressen festgelegt worden, dass eine durch einen „Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung“ der Völker auszunutzen sei „und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen“ wäre (7), blieb fast ohne Resonanz.

Nur Rosa Luxemburg – als zweite Frau im ISB – unterstützte sie, orientierte aber auch in einem Resolutionsentwurf, der dann einstimmig angenommen wurde, auf den durchzuführenden Kongress. „Nur die wenigsten unter den Anwesenden, so Jaurès und Rosa Luxemburg“, erinnerte sich Angelica Balabanoff später, „schienen sich Rechenschaft davon zu geben, was der Arbeiterklasse harrte.“ (8)

Der Kongress kam nicht zustande. Die Ereignisse überschlugen sich. Die Mehrheit der sozialdemokratischen Parteien lief offen in das imperialistische Lager über, bewilligte die Kriegskredite. Nationalbewusstsein, Chauvinismus und Hurrapatriotismus herrschten vor, die II. Internationale war zusammengebrochen. Die Bolschewiki und einige kleinere Parteien blieben auf internationalistischen Positionen. Auch die Mehrheit der ISP-Führung begrüßte Italiens Neutralitätspolitik. Nur Mussoloni ging eigene Wege, forderte den Kriegseintritt Italiens. Das führte zu seinem Parteiausschluss.

Angelica Balabanoff blieb ihren Überzeugungen treu, ging Anfang 1915 wieder in die Schweiz, um von neutralem Boden aus den Antikriegskampf zu organisieren. Gemeinsam mit Clara Zetkin bereitete sie eine Frauenkonferenz vor, die im März 1915 in Bern stattfand. Es war die erste internationale Zusammenkunft seit Beginn des Weltkrieges und endete mit einem im Wesen von C. Zetkin ausgearbeiteten Manifest, das sich vor allem an die Frauen wandte. Wörtlich hieß es dort: „Um eurer und eurer Lieben Zukunft willen rufen sie [die Versammelten – G.B.] euch zum Friedenswerke auf. Wie über die Schlachtfelder hinweg sich ihr Wille zusammenfand, so müßt auch ihr euch aus allen Ländern zusammenschließen, um den einen Ruf zu erheben: Friede! Friede!“ Und weiter: „Das Volk der Arbeit aller Länder ist ein Volk von Brüdern. Nur der einige Wille kann dem Morden Einhalt gebieten.“ (9) Im Auftrag der ISP-Linken war A.B. maßgeblich neben dem Schweizer Robert Grimm auch an der Vorbereitung der Konferenz von Zimmerwald (September 1915) beteiligt, lernte Lenin näher kennen, schloss sich der von ihm geführten Zimmerwalder Linken an, wurde in die konstituierte vierköpfige Internationale Sozialistische Kommission mit Sitz in Bern gewählt, war wie zuvor schon im ISB wieder für Protokoll- und Übersetzungsfragen zuständig. Entschieden unterstützte sie den bolschewistischen Resolutionsentwurf, der die Umwandlung des Krieges in den Bürgerkrieg forderte. Derselbe wurde jedoch mit 19 gegen 12 Stimmen abgelehnt.

A.B. nahm auch an den Nachfolgetagungen von Zimmerwald im April 1916 in Kiental und im August 1917 in Stockholm teil, war seit 1917 Leiterin des Sekretariats der ISK, wurde Mitglied der SDAPR (B). Bald nach der Oktoberrevolution kehrte sie Anfang 1918 nach Russland zurück. Maßgeblich war sie an den Vorbereitungsarbeiten zur Gründung der III., Kommunistischen, Internationale beteiligt, war Delegierte ihres I. Weltkongresses im März 1919, wurde in das von Grigori Jewsejewitsch Sinowjew (1883 – 1936) geleitete Exekutivkomitee der Komintern berufen. In ihrer Eigenschaft als Außenministerin der Ukraine reiste sie durch verschiedene Länder Westeuropas, um für die Komintern zu werben. In der Schweiz wurde sie sogar als bolschewistische Agitatorin ausgewiesen. Erst nach dem II. Weltkrieg wurde dieses Verbot aufgehoben.

In einem für „Avanti“ geschriebenen Artikel zum zweiten Jahrestag der Oktoberrevolution erläuterte sie den Italienern das Wesen der Sowjetmacht, verteidigte den „Roten Terror“ gegen den „Weißen Terror“ der alten Klassen in Russland und die Interventen von außen. Sie wies auf die Bedeutung der Wissenschaften, von Kunst und Volksbildung für die Erziehung der Massen im Sinne des Sozialismus hin. Maßgeblich wirkte sie in der sowjetrussischen Gottlosenbewegung mit , trat für die Verbreitung der Werke von Marx und Engels sowie anderer Marxisten ein. (10)

Noch Teilnehmerin und Rednerin auf dem II. Weltkongress der Komintern 1920 trat sie mit dem Übergang Sowjetrusslands zur Neuen Ökonomischen Politik im Frühjahr 1921 für die strikte Änderung der staatlichen Methoden ein, lehnte auch das Vorgehen während des Kronstädter Matrosenaufstandes ab. Schon im Januar des gleichen Jahres vertrat sie bei Gründung der IKP zentristische Auffassungen, war gegen den Austritt des linken Flügels um Antonio Gramsci (1897 – 1931) aus der ISP und damit der Trennung von den Reformisten, um die Einheit der Partei zu wahren. Als 1922 J. W. Stalin (1879 – 1953), mit dem sie schon vorher in Fehde lag, Generalsekretär der KPR(B) wurde, verließ sie Sowjetrussland. Sie sah in ihm nicht die Gewähr, dass der Parteigrundsatz „Lauterkeit im Ziel und Ehrlichkeit in den Methoden“ bei ihm in guten Händen lag.

Ein Versuch Lenins, sie von ihrem Weg abzuhalten, scheiterte. Schließlich stimmte er der Ausreise sogar zu. Nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Stockholm reiste sie nach Wien weiter, verdiente sich ihren Lebensunterhalt durch Sprachunterricht, nahm Kontakt zu Friedrich Adler (1879 – 1960), dem Austromarxisten und Sekretär der Internationalen Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Parteien (der sogenannten Internationale II 1/2) auf. Aber dieselbe scheiterte, wurde im Mai 1923 aufgelöst, denn zwischen der Sozialdemokratie und der kommunistischen Weltbewegung hatte sie keine Existenzberechtigung.

Mehrmals versuchte die sowjetische Regierung noch 1923, getreu dem Leninschen Gedanken, internationale Autoritäten in der kommunistischen Weltbewegung zu halten, A.B. zur Rückkehr in die UdSSR zu bewegen. Dies scheiterte aber. Kurz nach Lenins Tod wurde sie aus der KPR(B) wegen „einer böswilligen Kampagne“ gegen Partei und Staat ausgeschlossen (11), näherte sich wieder der ISP an. 1924/25 war A.B. als Vertreterin der Freidenker Italiens Mitglied der vorläufigen Exekutive und so maßgeblich an der Herausbildung der proletarischen Freidenker- Internationale beteiligt. 1926 übersiedelte A.B. nach Paris, wo sie neben Filippo Turati (1857 – 1932) leitend innerhalb der italienischen sozialistischen Emigration den Kampf gegen das sich seit 1922 an der Macht befindende faschistische Mussolini-Regime organisierte. Auf Kundgebungen, Versammlungen in vielen europäischen Ländern sowie in verschiedenen schriftlichen Beiträgen warnte sie davor, den Faschismus überhaupt zu unterschätzen, war er doch neben Italien auch in anderen Ländern an der Macht. Vor allem konzentrierte sie sich in ihrer Propaganda auch auf Deutschland, war oftmals in Berlin.

Vor allem über Max Sievers (1887 – 1944), den Vorsitzenden des DFV, versuchte sie Einfluss auf den sozialdemokratischen Teil der Arbeiterbewegung zu nehmen, sie für den antifaschistischen Kampf zu mobilisieren. Daran erinnerte sich Sievers‘ Tochter Margarethe Krause (1911 – 1991) noch nach fast 50 Jahren sehr intensiv. Wichtig war für A.B. in dem Zusammenhang, wie sie 1930 in ihrer extra verfassten Schrift „Marx und Engels als Freidenker in ihren Schriften“ hervorhob, die verstärkte Verbreitung des Marxismus der „materialistischen Weltanschauung“, denn der Weltkrieg und die Nachkriegsperiode hätten „nicht nur physisch, sondern auch geistig verheerend gewirkt“. Und die herrschenden Klassen versuchten, dies auszunutzen, sie wollten die Arbeiterklasse um ihre geistigen Errungenschaften bringen, ganz wie sie auf politisch-sozialökonomischem Gebiete bestrebt seien, ihr die im Klassenkampfe mühsam erworbenen sozialen Errungenschaften wieder zu entreißen. Vor allem gehe es für die Arbeiterklasse darum, die „reaktionäre Kirchenpolitik, die ihren Gipfel im faschistischen Italien erreicht hat“, zu bekämpfen (S. 5).

Das Buch ist in folgende zehn Kapitel gegliedert: Idealistische und materialistische Weltanschauung; der französische Materialismus des 18. Jahrhunderts; der dialektische Materialismus; die dialektische Auffassung der Natur; die dialektisch-materialistische Auffassung der Geschichte; Nutzanwendungen des historischen Materialismus (hier wird u. a. auf die Ideengeschichte, den Unterschied von idealistischer und materialistischer Geschichtsauffassung, das Wesen von Parteien und Organisationen in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung eingegangen); Ursprung und Entwicklung der Religionen; Kritik der Religion; Feudalismus und Geistlichkeit (skizziert wird hier, wie die Auflösung des Feudalsystems die Geistlichkeit in zwei Klassen teilte); Religion als Mittel der Unterdrückung.

In den von Sievers geschriebenen Schlussbemerkungen unterstrich er neben der damals aktuellen Bedeutung vor allem die Langzeitwirkung der Gedanken von Marx und Engels. Und wörtlich: „Ohne dieses Rüstzeug wird die Freidenkerbewegung weder ihren Kampf führen noch ihr Ziel erreichen können.“ (S. 110) Die Wirkung der Schrift war so groß, dass im Jahr 1931 eine zweite Auflage herauskam, 1979 brachte der Landesverband Nordrhein-Westfalen des DFV einen Nachdruck heraus, der heute auch nicht mehr greifbar ist. Bei Nachforschungen konnte er nur im Katalog der Nationalbibliothek nachgewiesen werden.

Schon in der Präambel der Schrift erläuterte A.B., was der Beschluss des Erfurter SPD-Parteitages von 1891 „Religion ist Privatsache“ (13) heiße. Wörtlich schrieb sie: Die Formel „hatte in keinerlei Weise den Zweck, die Einstellung der Sozialisten zur Religion als eine Neben- bzw. Privatsache zu erklären. Auch bezog sich diese Formel keineswegs auf das Gebiet der Weltanschauung. Sie war nichts anderes als eine knappe Zusammenfassung jener Forderungen, die die Arbeiterklasse durch ihre Vertreter dem Staate gegenüber erheben sollte. Dem bürgerlichen Staat sollte es versagt werden, Kirche und Religion als Staatsangelegenheit zu betrachten, dem Staat sollte die Möglichkeit genommen werden, Religionszwang auszuüben, die Bevölkerung zu Kirchenbesuch oder Kirchensteuerabgabe zu zwingen.“ Und Marx und Engels zitierend, schrieb sie weiter: Die Arbeiterpartei habe die Pflicht, „die Gewissen vom religiösen Spuk zu befreien“ und alle „religiösen Gemeinschaften ohne Ausnahme werden vom Staate als Privatgenossenschaften behandelt“(S. 8).(14)
Nach der Errichtung des Naziregimes in Deutschland versuchte A.B., gemeinsam mit Leo Trotzki (1879 – 1940), die zuvor in einigen Ländern von kommunistischen und sozialdemokratischen Parteien entstandenen rechten bzw. linken Abspaltungen zu einer neuen Internationale zusammenzuschließen. Zwar kam es im August 1933 in Paris, wo beide lebten, zu einer Konferenz der Internationalen Arbeitsgemeinschaft linkssozialistischer Parteien, aber wegen großer politischer Differenzen kam es nicht zum Zusammenschluss. Vor allem Jacob Walcher (1887 – 1970), der erst kurz zuvor illegal aus Deutschland gekommen war, trat dem entgegen. Erst 1938 erfolgte die Gründung der sogenannten 4. trotzkistischen Internationale. Daran nahmen aber beide nicht teil. A.B. übersiedelte bereits 1936 nach New York, zog sich von dem Unternehmen ganz zurück. Sie hatte wohl richtig erkannt, auch nach ihrem Fiasko von 1922/23, dass eine „Zwischeninternationale“ nur Fiktion sein könne.

In den USA ließ sie sich „naturalisieren“, d.h. als Ausländerin einbürgern, stand der opportunistischen „Elitepartei“ um die Zeitung „Call“ nahe, entwickelte sich nach und nach zur offenen Antikommunistin. Zwar schätzte sie bis zum Lebensende Lenin als Person, lehnte aber den Leninismus ab, kollidierte wegen ihrer orthodoxen Marxismusauffassungen in Staatsfragen mit der Verfassung der UdSSR von 1936. Vor allem wandte sie sich gegen das angebliche „Prinzip“, dass der „Zweck die Mittel heiligt“, wie sie bereits in ihrer 1938 erschienenen Autobiografie und der später erschienenen Arbeit über Lenin schrieb.15 Im Januar 1947 kehrte A.B. nach Italien zurück.

Sie schaltete sich gleich in die von den Rechtssozialisten um Giuseppe Saragat (1898 – 1988) betriebene Spaltung der ISP und die Gründung der Sozialdemokratischen Partei ein, wandte sich gegen die um Generalsekretär Pietro Nenni (1891 – 1980) gescharten Kräfte, die seit 1946 mit der IKP in einem Pakt eng verbunden waren, dessen Grundlagen sich im Kampf gegen den italienischen und deutschen Faschismus herausgebildet hatten. Auf sozialdemokratischen Versammlungen und Kongressen in Italien und dem Ausland, vor allem auch der Sozialistischen Internationale sowie in unzähligen Artikeln propagierte sie einen Demokratischen Sozialismus. In der Katholischen Kirche und der kommunistischen Weltbewegung sah sie ihre politischen Hauptgegner. Zeitweilig war sie sogar Anhänger der Totalitarismustheorie, Maß der Gemeinschaft sozialistischer Länder im Kampf für die Erhaltung des Weltfriedens aber entscheidende Bedeutung zu.

Zusammenfassend kann eingeschätzt werden, dass A.B. eine sehr widersprüchliche Persönlichkeit war. Ihre Hauptbedeutung für die Arbeiter- und damit auch Freidenkerbewegung liegt eindeutig in der Zeit des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts.

Gernot Bandur

Für Materialbeschaffung danke ich verschiedenen Mitarbeitern des Archivs der Sozialdemokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn, der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin und der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv sowie dem Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin.

Anmerkungen
1 In allen von mir durchgesehenen Quellen finden sich unterschiedlichste Angaben über Geburtsdatum und \ufdd3ort Angelica Balabanoffs. Ich stütze mich auf deren eigne Eintragung in die Gasthörerliste im Wintersemester 1900/01 an der damaligen Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, die im Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin aufbewahrt wird.
2 Zitiert nach Heinz Abosch: Angelica Balabanoff: Weltbürgerin im Dienste des Proletariats.
3 Max Walter Weber im Gespräch mit Angelica Balabanoff. In: Volksrecht, Zürich, 25. Febr. 1947.
4 Abosch, Heinz, a.a.., S. 204/205.
5 Vgl. Gernot Bandur: Freidenker und Sozialist. Max Sievers – eine politische Biografie. In: Freidenker, Köln, 63 (2004), 3, S. 30.
6 Vgl. SAPMO im Bundesarchiv, NY 4001/38 (Nachlass Karl Liebknecht). Dort ist Postkarte von A.B. überliefert, die auf diese Fakten hinweist.
7 Internationaler Sozialistenkongress zu Stuttgart, 18. bis 24. August 1907. Zitiert nach: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung in acht Bänden, Bd. 2, Berlin 1966, S. 370.
8 Zitiert nach: Laschitza, Annelies: Im Lebensrausch, trotz alledem. Rosa Luxemburg: Eine Biographie, Berlin 1996, S. 460.
9 Zitiert in: Zetkin, Clara: Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. 1, Berlin 1957, S. 671.
10 Ob A. Balabanoff offiziell aus den israelitischen Gemeinden ausgetreten ist, konnte ich nicht feststellen. Wahrscheinlich ist, dass sie sich wie viele Juden von der Religion abwandte, also die Grenzen des Judentums zu überschreiten suchte, ohne dessen kulturelles Erbe zu verleugnen, sich als „nichtjüdische“ Jüdin bezeichneten im Geist der jüdischen „Rebellen“ von Benedikt Spinoza (1632 – 1677) über Heinrich Heine (1797 – 1856) bis Rosa Luxemburg (vgl. dazu auch ND-Artikel vom 31.3./1.4.2007 zum 100. Geburtstag von Isaac Deutscher).
11 Sovetskaja istoriceskaja Enziklopedija, Bd. 2 (russ.), Moskau 1962, S. 70.,
12 Vgl. Freidenker-Magazin, Berlin [W], 4 (1984) 1.
13 Wörtlich heißt es im Erfurter Programm: „6. Erklärung der Religion zur Privatsache. Abschaffung aller Aufwendungen aus öffentlichen Mitteln zu kirchlichen und religiösen Zwecken. Die kirchlichen und religiösen Gemeinschaften sind als private Vereinigungen zu betrachten, welche ihre Angelegenheiten vollkommen selbständig ordnen.“ Abgedruckt in Protokolle über die Verhandlungen der Parteitage der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Halle 1890 und Erfurt 1891. Mit e. wissenschaftl. Einltg. von Marga Beyer, Reprint der Originalausgaben, Zentralantiquariat der DDR, Leipzig 1983. Zitiert nach: GeschichtsKorrespondenz, hrg. v. Marxist. Arbeitskreis z. Geschichte d. dt. Arbeiterbew. bei d. PDS, Berlin, 9 (2003) 3, S. 23.
14 Siehe dazu: Marx, Karl: Kritik des Gothaer Programmentwurfs. In: Marx, Karl/Engels, Friedrich: Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Bd. IV, Berlin 1971, S. 400; Engels, Friedrich: Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs. In: Marx, Karl/Engels, Friedrich, Ausgewählte Werke, Bd. VI, Berlin 1972, S. 377.
15 Vgl. Brugel u. Abosch, a.a.O. Ferner: The New York Times vom 26. Oktober 1965.

Werke (Auswahl)
Iz licnych Vospominanij Zimmerval’dca, Leningrad, Moskva: Kniga 1925, 194 S. [Russ.] Dt.: Die Zimmerwalder Bewegung 1914 – 1919, Leipzig: Hirschfeld 1928, 160 S. Nachdruck: Frankfurt/M: Verl. Neue Kritik (1969) [Archiv sozialistischer Literatur; 16] Erinnerungen und Erlebnisse, Berlin: Laub 1927, 299 S.
Erziehung der Massen zum Marxismus: Psychol.-pädag. Betrachtungen, Berlin: Laub 1927, 164 S.
Marx und Engels als Freidenker in ihren Schriften: ein Hand- u. Kampfesbuch, zsgest. u. eingel. v. A.B., Berlin, Der Freidenker 1930, 110 S., 2. Aufl.: Jena, Urania-Freidenker-Verl. 1931, 111 S. Nachdruck: Schwerte, Verl. Freistühler 1979, 110 S. [Philos. u. Religion; 3].
Wesen und Werdegang des italienischen Fascismus, Wien, Leipzig: Hess 1931, 286 S.
Sozialismus als Weltanschauung, Jena: Thüringer Verlangsanst. [1932], 31 S. [Freidenkerschulung; 3] My Life as a Rebel, New York: Harper & Brothers sowie London, Hamish Hamilton ,1938, 358 S.
Lenin: Psychologische Beobachtungen und Betrachtungen, Hannover: Verl. f. Literatur u. Zeitgeschichte, 1959, 183 S. [Autoris. Übers. Aus d. Ital.], 2.Aufl., ebenda 1961, 183 S.

Literatur (Auswahl)
Angelica Balabanowa. In: Internatonales Biographisches Archiv (Munzinger-Archiv), 1951, Lfg 14
Abosch, Heinz: Angelica Balabanoff: Weltbürgerin im Dienste des Proletariats, in: Sie waren die ersten Frauen in der Arbeiterbewegung, hrsg. v. Dieter Schneider, Frankfurt (M);:Büchergilde Gutenberg 1988, S. 201 – 210.
Brugel, J[ohann] W[olfgang]: In memoriam Angelica Balabanoff. In. Rote Revue, Zürich, 45 (1966) 1, S. 1 – 8.
K[owalski], W[erner]: Balabanowa, Angelika. In: Biographien zur Weltgeschichte – Lexikon, hrsg. v. Heinz Tillmann u.a., Berlin 1989, Verl. d. Wissenschaften, S. 61.
Angelika Isaakovna Balabanova. In: Sovetskaja istoriceskaja Enziklopedija, Bd. 2 (russ.), Moskau 1962, S. 70.
Vuilleumier, Marc: Balabanoff, Angelica. In: www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D27588.php [Aus: Historisches Lexikon der Schweiz].
Angelica Balabanova. In: www.de.wikipedia.orgniki/Angelica_Balabanova.
[Bandur, Gernot]: Balabanoff, Angelica. In: www.berliner-freidenker.de.

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