Landesverband Berlin im
Deutschen Freidenker-Verband e.V.

Marktkonforme Humanisten?

Freitag, 17. Juni 2016 von Webredaktion

Meine Begriffsbildungen „marktkonforme Humanisten“ oder „marktkonformer Humanismus“ lehnen sich an die Erfindung der „marktkonformen Demokratie“ an. Diese geht offenbar auf die Kanzlerin zurück, die sich 2011 in diesem Sinne äußerte und zwar mit der folgenden gewundenen (merkeltypischen) Formulierung: „Insofern werden wir Wege finden, die parlamentarische Mitbestimmung so zu gestalten, dass sie trotzdem auch marktkonform ist, also dass sich auf den Märkten die entsprechenden Signale ergeben.“ (Quelle). Wer in dieser Art schwurbelt, kann sich ‚rausreden, wenn er „erwischt wird“. Das ‚Rausreden führt in der FAZ  ein Merkelverteidiger vor. Hier dagegen klärt jemand darüber auf, welcher Sprengstoff in Merkels Statement wirklich steckt.

Es geht um den neoliberalen Durchmarsch. Der Begriff „Neoliberalismus“ enthält zwar heterogene (darunter apologetische) Elemente und wird heute fast inflationär gebraucht, zentral bleiben dennoch die Bedeutungen „Marktradikalismus“ oder „Marktfundamentalismus“ (mit Marschrichtung „Marktterrorismus“).  Auch dieses sind verhüllende Begriffe. Sie stehen für eine historisch neue Qualität der Marktsteuerung im Interesse extremer (auch neuartiger) Sonderprofite und von Machterhalt und -steigerung des Konglomerats der „unverzichtbaren“ transatlantischen Imperialisten-Oligarchen. Heute gilt darüber hinaus: Dieser Kerninhalt wird zunehmend ausgeformt zum strategischen Konzept der totalen Zurichtung ALLER Strukturelemente der Gesellschaft. Das Konzept wird anscheinend gleichzeitig entwickelt, erprobt und kontinuierlich verwirklicht.

Ich bin kürzlich bei der kritischen Betrachtung der Friedensbewegung darauf gestoßen, dass ihre beschränkte Ausstrahlungskraft und Mobilisierungsfähigkeit nicht zuletzt in einer Selbstfesselung durch die Übernahme neoliberaler Positionen wurzelt. Zwar folgen keineswegs alle Friedensbewegten dieser Anpassung, viele ihrer namhaften, markanten Persönlichkeiten, die oft Einflusspositionen einnehmen, tun es aber umso bereitwilliger. Von meiner Feststellung fühlte sich Otmar Steinbicker aus Aachen persönlich angesprochen. Seine Entgegnung, ebenso die Äußerungen Einiger, die ihm beipflichten, ist knapp gehalten. Sie erscheint mir bemerkenswert halbherzig. Da geht jemand zum Neoliberalen auf Distanz (zumindest tut er so) aber er scheint nicht recht zu wissen (oder wissen zu wollen), warum er das tut, was er da tut.

Neoliberalismus als ALLE Bereiche der Gesellschaft zersetzendes Phänomen wird bemerkenswert wenig reflektiert. Warum?

Ein voller Sieg neoliberaler Konformität auf philosophisch-ideologischer Ebene war kürzlich bei der vom Humanistischen Verband Deutschlands in Zusammenarbeit mit dem Berliner Senat ausgerichteten Konferenz „Frieden und Orientierung – Humanistische Beiträge zur offenen Gesellschaft“ zu beobachten. Neben Anderen referierte der namhafte, namhafte Lebenskunst-Philosoph Wilhelm Schmid (Universität Erfurt); über „Lebenskunst und integrative Gesellschaft“.

Einschlägige Problemfelder, die geringeren Geistern erhebliches Kopfzerbrechen bereiten, schob Prof. Schmid recht unbekümmert vom Tisch: Kapitalismus? Das sei, sich mit „einer Ausrede“ zu beschäftigen. Nation? Das sei „Flucht vor Verantwortung“. So schlug sich Schmid mit derben Hieben durch das verhasste Unterholz des „Parteipolitischen“, um in luftiger philosophischer Höhe seine Lebenskunst zu verankern.

Je abstrakter, umso besser lässt sich betrügen  – praktiziert die Kirche seit Jahrhunderten. Schmid sprach aber nur wenig Latein: Eine volle Breitseite richtete er gegen die „Identität“. Das sei ein völlig untauglicher Begriff für die Begründung der menschlichen Lebenskunst. Ein wahrer Antibegriff, denn er behaupte das Feste, das Immergleiche, das Tote. Er behaupte das, was es gar nicht gibt. Schmid verkündete den wahren, den erlösenden Begriff: „Integrität“. Der sei auf ALLE Facetten des Lebens gerichtet und erfasse die tausendfachen (möglichst bewussten) Bemühungen des Individuums, in sich die Vielfalt aller Lebensmomente bestmöglich zu vereinigen. Das aber könne und dürfe „nicht gelingen“.

Lebenskunst also, nach dem neoliberalen Philosophen, erschöpft sich in einer Art „lebenslangen integrierenden Strampelns“ des Individuums, das um Gottes willen, nie eine Identität erlangen möge und also auch niemals den ihm vorgegebenen Verhältnissen als Subjekt gegenüber tritt.

Natürlich ist nichts einzuwenden gegen die Betrachtung des sogenannten „Integrierens“. Im Gegenteil, die Prozesse des Austauschs in der Gesellschaft, ihr Stoffwechselprozess mit der Natur und all das vermittelt über die Tätigkeit gesellschaftlicher Individuen und sozialer Einheiten, müssen analysiert und begriffen werden. Die Crux des Herrn Professor liegt in der Leugnung von Identitäts-Fixpunkten im gesellschaftlichen Gewebe. Sie liegt letztlich darin, zu bestreiten, dass menschliche (organisierte) Subjekte das imponierende Chaos des heute alles durchwuchernden Profitstrebens beenden und ihren gesellschaftlichen Stoffwechselprozess nach menschlichen Maßen gestalten könnten. Die „theoretische Begründung“ dieser Lehre steht und fällt mit der Auffassung der Identität. Schmid scheint nur die „schlechte“, „leere“, tote zu kennen. Weg damit! Identität, die ihr Anderes in sich trägt, scheint außerhalb seiner Vorstellungswelt zu liegen. Identität als Kulminationpunkt von Dynamik? Nie gehört, nie gesehen, nie gedacht. 2000 Jahre Dialektik und 200 Jahre moderne Dialektik existieren nicht.

Die philosophischen Setzungen des Professors erfuhren im Auditorium der mehr als hundert Interessierten keinen Widerspruch. Dankbar wurden einige „Scherze mit tieferer Bedeutung“ aus dem Werkzeugkasten des erfolgreichen Unidozenten aufgenommen. Mein Einwurf, dass die gewiss komplexe Lehre von der Lebenskunst sich um einen Basiswert kümmern müsse – die Sicherung der Existenz des Lebens – und dass die aggressiven Akte der NATO gegen Russland (ich erwähnte die jüngste Raketenstationierung in Rumänien) genau diese Voraussetzung aller Lebenskunst gefährden, riefen den heftigsten Unmut von Wilhelm Schmid und seine strikte Zurückweisung solcher „platten Parteipolitik“ hervor.

Seine Erhabenheit über Parteipolitik hinderte ihn nicht, Deutschland (für weltmeisterliche Export- und Fußballleistungen bekannt) zur „selbstkritischsten Gesellschaft der Welt“ zu erklären. Von gleichartiger Qualität die wiederholte Behauptung, dass der Westen, dass Deutschland Protagonisten der  „Offenen Gesellschaft“ seien.

Das Auditorium zeigte sich nicht begierig, die Thematik zu vertiefen, desgleichen die Podiumsleitung, die jetzt abrupt und überpünktlich einen Schlusspunkt setzte.

Fazit: Das Thema nannte sich „Frieden und Orientierung“, und zuletzt hatte ich das Gefühl, im Waggon erster Klasse unter Schlafwandlern zu sitzen. Die Konferenz erstreckte sich über einen ganzen Tag, und manche Aussagen anderer Vortragender aber auch Gespräche am Rande wirkten dem erwähnten Gefühl  entgegen.

Mein oben formulierter Satz: „Neoliberalismus als ALLE Bereiche der Gesellschaft zersetzendes Phänomen wird bemerkenswert wenig reflektiert“ gehört zum Fazit. Das Wie und Warum sollte unsereins weiter beschäftigen.

 

 

 

 

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