Den folgenden Text, der in „Lenin, Werke Band 36, Seite 501f“ nachgelesen werden kann, veröffentlichte Lenin am 20. Dezember 1918 in der „Prawda“.
„Ich lernte Gen. Proschjan während unserer gemeinsamen Arbeit im Rat der Volkskommissare Ende des vergangenen und Anfang dieses Jahres (1917/1918 – KPKurch) kennen und schätzen, als die linken Sozialrevolutionäre mit uns verbündet waren. An Proschjan fiel sofort auf, daß er der Revolution und dem Sozialismus zutiefst ergeben war. Nicht von allen linken Sozialrevolutionären konnte man sagen, daß sie Sozialisten sind, überhaupt konnte man das wohl kaum von den meisten unter ihnen behaupten. Von Proschjan jedoch mußte man das sagen, denn ungeachtet seiner Treue zur Ideologie der russischen Volkstümler, einer nichtsozialistischen Ideologie, war in Proschjan der tief überzeugte Sozialist zu erkennen. Auf seine Art, nicht durch den Marxismus, nicht von der Idee des proletarischen Klassenkampfes aus ist dieser Mensch Sozialist geworden, und im Rat der Volkskommissare konnte ich bei der gemeinsamen Arbeit wiederholt beobachten, wie Gen. Proschjan sich entschlossen auf die Seite der Bolschewiki, der Kommunisten stellte, und nicht auf die seiner Kollegen, der linken Sozialrevolutionäre, wenn diese den Standpunkt der Kleineigentümer vertraten und sich zu den kommunistischen Maßnahmen auf dem Gebiet der Landwirtschaft ablehnend verhielten.
Mir ist besonders ein Gespräch mit Gen. Proschjan im Gedächtnis geblieben, das kurz vor dem Brester Frieden stattfand. Damals schien es, als bestünden schon keine irgendwie wesentlichen Meinungsverschiedenheiten mehr zwischen uns. Proschjan begann mir gegenüber davon zu sprechen, daß eine Verschmelzung unserer Parteien notwendig sei, daß die dem Kommunismus (damals war dieses Wort noch nicht im Schwange) am fernsten stehenden linken Sozialrevolutionäre sich ihm während der gemeinsamen Arbeit im Rat der Volkskommissare merklich und sehr stark genähert hätten. Ich verhielt mich zum Vorschlag Proschjans zurückhaltend und bezeichnete ihn als verfrüht, leugnete jedoch keineswegs ab, daß in der praktischen Arbeit eine Annäherung zwischen uns erfolgt sei.
Ein völliges Auseinandergehen brachte der Brester Frieden, und bei der revolutionären Konsequenz und Uberzeugungstreue Proschjans mußte aus diesem Auseinandergehen unbedingt ein direkter, ja bewaffneter Kampf entstehen. Daß es bis zum Aufstand oder bis zu solchen Tatsachen wie dem Verrat des Armeeoberbefehlshabers Murawjow, eines linken Sozialrevolutionärs, kommen könnte, das hatte ich, offen gestanden, nicht erwartet. Doch hat mir das Beispiel Proschjans gezeigt, wie tief sich in den Köpfen selbst der aufrichtigsten und überzeugtesten Sozialisten aus den Kreisen der linken Sozialrevolutionäre der Patriotismus eingenistet hatte – wie die Meinungsverschiedenheiten in den allgemeinen Prinzipien der Weltanschauung an einem schwierigen Wendepunkt in der Geschichte unvermeidlich zutage treten mußten. Der Subjektivismus der Volkstümler führte zu einem verhängnisvollen Fehler selbst der besten unter ihnen, die sich von dem Phantom einer ungeheuerlichen Macht, nämlich der des deutschen Imperialismus, blenden ließen. Ein anderer Kampf gegen diesen Imperialismus als durch Aufstände, und noch dazu unbedingt augenblicklich, ohne die objektiven Verhältnisse unserer und der internationalen Lage irgendwie zu berücksichtigen, erschien vom Standpunkt der Pflicht eines Revolutionärs als direkt unzulässig. Hier zeigte sich derselbe Fehler, der die Sozialrevolutionäre im Jahre 1907 zu unbedingten „Boykottisten“ der Stolypinschen Duma machte. Nur hat sich unter den Bedingungen heißer revolutionärer Schlachten der Fehler grausamer gerächt und Proschjan auf den Weg des bewaffneten Kampfes gegen die Sowjetmacht getrieben.
Und dennoch hat Proschjan bis zum Juli 1918 mehr für die Festigung der Sowjetmacht getan als nach dem Juli 1918 für deren Untergrabung. Und in der internationalen Situation, die nach der deutschen Revolution entstanden ist, wäre eine neue – dauerhaftere als die frühere -Annäherung Proschjans an den Kommunismus unausbleiblich erfolgt, wenn ein vorzeitiger Tod diese Annäherung nicht verhindert hätte.
N. Lenin“
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Wer den kurzen Zeitungsartikel nur oberflächlich betrachtet, meint vielleicht: „Nichts Besonderes, kleine Gedenknotiz für einen verstorbenen Genossen“. Doch damit würde etwas Wichtiges übersehen, nämlich, dass Lenin eines Menschen gedenkt, der „den Weg des bewaffneten Kampfes gegen die Sowjetmacht“ eingeschlagen hatte. Ist es nicht erstaunlich, dass Lenin trotzdem nicht von Feind spricht?
Revolutionäre mit einer anderen Position „Feinde“ zu nennen, sie als „Agenten des deutschen, britischen und amerikanischen Geheimdienstes“ zu diffamieren oder sie als „Trotzkisten“ – das Allerschlimmste! – in Acht und Bann zu tun, das hat erst Stalin zur Methode gemacht, und manche seiner Adepten folgen ihm bis heute.
„Aber Stalin stand unter dem Druck des schärfsten Klassenkampfes, der schärfsten Angriffe der Konterrevolution“, wird als „Begründung“ vorgebracht. Ein Blick auf das Datum von Lenins Nachruf – 20. Dezember 1918 – verrät, dass dieser im Augenblick des Existenzkampfes der Sowjetmacht geschrieben wurde. In den Werken Band 28 ist auf den Seiten 539 und 540 aufgeführt, womit Lenin sich im Dezember 18/Januar 19 beschäftigte; kann hier mühelos nachgeprüft werden. Nein, es war nicht die politische Schönwetterlage, die dem Führer der Revolution eine „menschliche Regung“ erlaubte.
Ohnehin ist es nicht so sehr „Warmherzigkeit“, die hier zum Ausdruck kommt. Vielmehr ist es eine grundsätzliche Achtung vor jedem Menschen und ein tiefes konkretes Verständnis für jeden Menschen auf der Basis tief begründeten und zugleich differenzierten theoretischen Wissens und feinfühliger Wahrnehmung des Anderen (in seiner inneren Widersprüchlichkeit und persönlichen Dynamik).
Welche theoretische Souveränität steckt allein in der Bemerkung, Proschjan sei als Vertreter einer „nichtsozialistischen Ideologie“ dem Sozialismus „zutiefst ergeben“ gewesen. Ich sagte „theoretische Souveränität“ – ihr Kern ist die gleichsam zu Lenins „Natur“ gewordene Fähigkeit der materialistischen Dialektik. Das sei hervorgehoben, weil es erlernbar ist.
Der Deutsche Freidenkerverband veranstaltet im September 2017 in Berlin eine wissenschaftliche Konferenz aus Anlass des 100. Jahrestages der Oktoberrevolution. Erfreulich wäre es und wir sollten dafür sorgen, dass diese Konferenz eine Übung des Nachdenkens mit Lenin wird.
Das Rumi-Projekt. Die Zeitschrift „Oya“. Dieter Halbach.
Dass die Meinungsfreiheit ein „hohes Gut“ sei, ist ein bekannter Gemeinplatz bürgerlicher Politiker und ihrer Presse. Feierlich wird er vorgetragen, obwohl doch jeder weiß, dass es in Wirklichkeit nur EIN „hohes Gut“ gibt – GELD, allenfalls noch ein zweites – MACHT, beide garantiert durch das allerhöchste Gut – das KAPITALISTISCHE PRIVATEIGENTUM AN DEN PRODUKTIONSMITTELN des menschlichen Lebens.
Der formale Charakter der bürgerlichen Freiheiten in der bürgerlichen Gesellschaft hat viele Sozialisten, Kommunisten, überhaupt Gesellschaftskritiker, verleitet, sie gering zu schätzen. Nicht selten hat man sich herablassend oder gar feindselig über sie geäußert. (Besonders irrwitzig war es dann, die bürgerlichen Freiheiten aufzuschreiben ohne wenigstens ihren formale Geltung zu garantieren – klassisches Beispiel die Stalinsche Verfassung von 1936, die „demokratischste Verfassung der Welt“.) Kurz: Oftmals hat man das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.
In Wahrheit gehört die Meinungsfreiheit zu den elementaren, in jeder Hinsicht unverzichtbaren Elementen einer jeden Gesellschaft, die beansprucht demokratisch zu sein. Die Meinungsfreiheit (und alle bürgerlichen Freiheiten) sind nicht die Emanzipation selbst aber sie sind unerlässliche Bedingungen der Emanzipation. Sie haben eine nicht ersetzbare Vermittlungsfunktion im Prozess der menschlichen Emanzipation. Fast überflüssig zu Sagen, dass diese altehrwürdige Tatsache unter den Bedingungen des Internets in der Potenz gilt.
Meinungsfreiheit meint nicht, dass von einer Million Menschen jeder einen Monolog hält, zwar lauthals aber nur die Luft bewegend. Geäußerte Meinung zielt auf geäußerte Meinung und möchte diese beeinflussen, verändern. (Das geschieht oft aber nicht immer mit der Absicht ein bestimmtes Tun auszulösen.) Der Zusammenprall unterschiedlicher Meinungen führt zu Reibungen und steigert sich nicht selten zum Streit, der meist umso heftiger wird, je gegensätzlicher die Meinungen sind. MEINUNGSSTREIT IST KEIN FEHLER, KEINE ENTGLEISUNG, SONDERN DIE WIRKLICHKEIT GELEBTER MERINUNGSFREIHEIT. Der Abbruch des Meinungsstreits (der angefangen mit harmlosen Formen sich bis zu bitterbösen, ja lebensbedrohlichen steigern kann) ist ein Ausdruck gesellschaftlicher Pathologie. In dem Film „Comrade, where are you today?“ der finnischen Regisseurin Kirsi Marie Liimatainen sagt eine libanesische Mutter bitter: „Die Menschen diskutieren nicht mehr…, sondern sprechen mit Schüssen.“ (Vorgemerkt: Die Berliner Freidenker erwägen, diesen Film zum Thema einer ihrer Gesprächsrunden zu machen und dazu die Regisseurin einzuladen.)
Provozierend möchte ich sagen: „Es gibt keine!“
Aber das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Schon jeder Mensch individuell gibt sich Regeln, umso mehr müssen das Menschen tun, die wechselwirken und sich austauschen wollen. Entscheidend ist, dass die Regeln oder Begrenzungen der tatsächlichen Meinungsfreiheit dienen. Sie sind ihr nachgeordnet, sind sekundär und nicht umgekehrt!
Den allgemeinsten Rahmen der Freiheit und des Streits der Meinungen einer Gesellschaft definiert ihre Verfassung. In der BRD erfüllt diese Aufgabe gegenwärtig das Grundgesetz. Es „verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“. Der Name dieses Tages scheint „St. Nimmerlein“ zu sein. Das demokratische Defizit der BRD gegenüber der DDR kommt auch darin zum Ausdruck, dass die DDR eine solche vom Staatsvolk 1968 in einem Volksentscheid bestätigte Verfassung besaß.
Selbstverständlich geben sich Gruppen innerhalb der Gesellschaft, die besondere Ziele verfolgen, ihre eigene „Verfassung“, also Programme, Statuten, Grundsatzbeschlüsse usw. Sie orientieren und begrenzen den Meinungsstreit innerhalb der Gruppe. Vor allem aber wollen sie ihn für die Gruppenziele fruchtbar machen. So wird eine Gruppe des ADFC einem leidenschaftlichen Verfechter der automobilgerechten Stadt wohl kaum die Meinungsführerschaft zugestehn. Es gibt geschlossene Gruppen, bis hin zu Verschwörungen und Kriminalität, die ihre eigenen strikten Regeln des Umgangs mit Meinungen und Meinungsaustausch durchsetzen, ggf. unter Verletzung der gültigen verfassungsrechtlichen Normen.
Natürlich haben linke Gruppen und Organisationen mit den Letztgenannten nicht das Geringste zu tun. Sie sind vielmehr deren Antipoden. Linke Gruppen und Organisationen (einschließlich der Freidenker) haben die Besonderheit, dass sie zwar gegenüber der Gesellschaft eigenständig organisiert sind, aber dass sie keine partiellen, im Sinne von eigennützigen Interessen verfolgen. Uneingeschränkt gelten die 170 Jahre alten Sätze aus dem „Kommunistischen Manifest“: „Die Proletarier haben nichts von dem Ihrigen zu sichern, sie haben alle bisherigen Privatsicherheiten und Privatversicherungen zu zerstören… Alle bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten oder im Interesse von Minoritäten. Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl.“ (Kapitel I. des Manifests der Kommunistischen Partei).
Linke Gruppen und Organisationen sind Bewegung der „ungeheuren Mehrzahl“, gerichtet auf die „ungeheure Mehrzahl“. Daraus folgt der grundsätzlich ÖFFENTLICHE CHARAKTER ihres Wirkens. Dazu genügt es nicht, dass „das Wohl unserer Menschen“ in den internen Papieren der „Ritter der Tafelrunde“ beschworen wird oder die Versicherung, dass „Kultur jeder zweite Herzschlag unseres Lebens“ sei. Grundsätzlich unverzichtbar ist hingegen, dass der Meinungsstreit öffentlich ausgetragen wird; öffentlich und nicht scheinöffentlich, also bei voller Transparenz. Das hat einige beachtliche Konsequenzen.
Auch bei den FREIdenkern herrscht, wie könnte es anders sein, MeinungsFREIHEIT. Selbstverständlich lebt diese in der Tat im öffentlichen Meinungsaustausch und Meinungsstreit. Für den sind das Verbandsstatut und die Beschlüsse der Verbandstage verbindlich. Das schließt auch das Recht jedes Mitglieds ein, in den Verbandsorganen zu publizieren oder sich in beliebiger Weise zu äußern. (Die bei Druckerzeugnissen naturgemäß gegebenen Einschränkungen, sind mit dem basisdemokratischen Potential des Internets zumindest im Prinzip/nach ihrer technischen Seite überwunden.) Es gibt kein Organ im Freidenkerverband, das das Recht hätte dieses Veröffentlichungsrecht jedes Mitglieds zu beschränken, wie andererseits jedes Mitglied das Recht hat, verbandsschädigende Äußerungen zurückzuweisen und ihre Rücknahme/Löschung zu verlangen (worüber statutengemäß zu entscheiden ist). Webmaster (im Unterschied zu Redaktionen) haben die Veröffentlichungen nur technisch-organisatorisch zu sichern und auf die Einhaltung gewisser Standards der Kommunikationskultur zu achten. Sie sind nicht zur inhaltlichen Steuerung des Meinungsstreits berechtigt. Wie könnten sie auch: Aufklärung entsteht nicht dadurch, dass Aufzuklärenden von einer Zentrale oder sonstwie befugten Personen einstimmig (oder mit Mehrheit) Beschlossenes zugeleitet wird. Aufklärung stützt sich auf Wahrheit und diese hat damit zu tun, dass kommunizierende Subjekte „Abbilder“ des Objektiven/der objektiven Realität erarbeiten, die mit diesem Objektiven immer besser übereinstimmen. In diesem Zusammenhang darf der oder die philosophisch Interessierte Marxens Feuerbachthesen (ungeachtet, dass darüber Bibliotheken vollgeschrieben worden sind) einfach wörtlich nehmen.
Oben war die IM PRINZIP gegebene basisdemokratische Potenz des Internets erwähnt. Diese Möglichkeiten müssen bewusst erschlossen werden. Auch die Freidenker wissen, dass da „Mühen der Ebene“ warten.
Mailinglisten sind legitime Mittel des mehr oder weniger internen Meinungsaustauschs. Sie sind bestenfalls halböffentlich mit allen damit verbundenen überschaubaren Vorteilen und bedeutenden Mängeln.
Es geht um die sogenannten „Sozialen Medien“. Ich hasse Facebook und kann Jeden verstehen, der sich diesem scheinbar „unausweichlichem Schicksal“ nicht ausliefern will. Ich bin dort nicht aktiv. Nach allem, was ich auf dem ptm-Festival im Juni 2017 zum ersten Mal erblickt und seitdem detaillierter erfahren habe, wird mit Leidenschaft, Sachkenntnis und hoher finanzieller Einsatzbereitschaft an einer demokratischen, offenen und weit leistungsfähigeren Lösung als Facebook gearbeitet. Sie heißt „HUMAN CONNECTION“, und ich unterstütze sie mit Nachdruck.